Monatsarchiv für Dezember 2004

Political Correctness in Zeiten der Flut

Freitag, den 31. Dezember 2004

Im Spiegel (und auch anderswo) lese ich, dass der Titel „Die perfekte Welle“ der Band Juli angesichts der Flutkatastrophe in Asien von diversen Radio-Playlists gestrichen wurde. Ähnlich ist es offenbar auch einigen anderen deutschen Titeln ergangen. Dies sei – so lassen sich die Radioverantwortlichen zitieren – ein übliches Vorgehen: Solche Titel zu spielen und dann in den Nachrichten über Zehntausende von Tsunami-Opfern zu berichten, sei geschmack- bis pietätlos.

Bei allem Respekt: Ist dies nicht ein bisschen vordergründig? Wer sich die Mühe macht, den Songtext von „Die perfekte Welle“ genauer zu studieren (beispielsweise hier), erhält den Eindruck, dass es hier weniger um Wasser als um Emotionen geht. Metapher nennt man sowas, aber dafür haben Volltextsuchen von Musikcomputern leider wenig Verständnis.

Wenn man dabei bleibt, dass dieser Song nicht mehr gespielt werden darf, dann stellen sich unweigerlich Folgefragen:

  • Wie sollen sich Sender verhalten, die das Wort „Welle“ sogar im Namen tragen (z.B. Deutsche Welle, Landeswelle Thüringen, Ostseewelle, Mainwelle, Welle West, Welle Niederrhein, Inn-Salzach-Welle)? Nach der obigen Logik müssten diese Stationen eigentlich den Betrieb einstellen.
  • Ab welcher Menge von Opfern ist es nicht mehr opportun, ein Thema musikalisch zu behandeln? Dass man wegen einiger abgestürzten Extrembergsteigern nicht gleich „Das Wandern ist des Müllers Lust“ aus den Schulbüchern verbannen muss, ist sicher Konsens. Aber nehmen wir beispielsweise die jährlich über 40’000 Verkehrstoten in der EU plus die nochmals gut 40’000 Verkehrstoten in den USA (Quelle) – müsste man da nicht konsequenterweise auf die Verbreitung aller Songs, welche das Autofahren verherrlichen, grundsätzlich und immer verzichten?
  • Wie bemisst sich die Frist, nach der es wieder geschmack- und pietätvoll sein wird, „Die perfekte Welle“ zu spielen? Die betroffenen Gebiete werden jahre- wenn nicht jahrzehntelang unter dieser Naturkatastrophe leiden, und viele Opfer sind ein Leben lang davon betroffen. Die Entscheidung, die gesperrten Titel eines Tages wieder auf die Playlist zu nehmen wird wesentlich zynischer sein als wenn man sie gar nie davon gestrichen hätte.
  • Last but not least: Ist ein englischer Song weniger pietätlos als ein deutscher? Insbesondere wo die Mehrzahl der Opfer sicher besser Englisch als Deutsch versteht? Man suche beispielsweise auf www.lyriks.de nach „Tide“ und wird rasch begreifen, dass dem Problem mit dieser Methode schlicht nicht bezukommen ist.

Das Beispiel zeigt: Political Correctness ist nur zu oft kein Zeichen für Sensibilität, sondern für Opportunismus. Dadurch ist sie tendenziell inkonsequent und wankelmütig. Sie zeugt meist nicht von einer vertieften Auseinandersetzung mit einem Thema, sondern im Gegenteil vom Bedürfnis, sich eben nicht wirklich mit dem Thema auseinandersetzen zu müssen.

In diesem Sinn: www.glueckskette.ch

Spieglein, Spieglein

Freitag, den 31. Dezember 2004

Mirror Project

Für einmal kein eigenes Foto, sondern eine Empfehlung: Unbedingt das Mirror Project besuchen! Wirklich erstaunlich, welche Vielfalt an Bildern sich aus einer so simplen Idee ergeben, sich selbst in einer spiegelnden Fläche zu fotografieren. Wobei weniger die Originalität des einzelnen Bildes als vielmehr deren Menge beeindruckt. Aber weil Selbstbildnisse meist sehr viel mehr aussagen als Fremdbildnisse ist trotzdem jedes einzelne Foto einen Blick wert.

Die Sache mit dem TrackBack

Freitag, den 31. Dezember 2004

Jeder kennt dieses gruppendynamische Phänomen aus der Schule: Man denkt, man sei der/die einzige, der/die eine bestimmte Sache nicht kapiert hat, würde sich aber lieber die Zunge abbeissen als zu fragen. Dann bricht endlich jemand das Eis und stellt offen die entscheidende Frage – und plötzlich wird klar, dass es eigentlich niemand so richtig kapiert hat.

So ähnlich ging es mir als ich mich, auf das Eintreffen des deutlich verspäteten Sandmännchens harrend, dahinter machte, nach einem guten Monat aktiven Bloggens die Bedeutung des Wortes „TrackBack“ zu entschlüsseln.

Lassen wir zunächst Zahlen sprechen: Der Suchstring „Was ist Trackback“ liefert allein bei Google rund 9’890 Treffer, die englische Version „What is trackback“ bringt es auf rund 85’300 Treffer.

Die knappe Zusammenfassung: Offenbar versteht fast niemand so wirklich, wie TrackBack funktioniert. Und jeder erklärt es ein bisschen anders. Nach intensiver Lektüre habe ich nun meine persönliche Erklärung, und die geht so:
Ganzen Eintrag lesen »

s’Totemügerli läbt!

Freitag, den 31. Dezember 2004

Immer wieder einmal – und zwar immer dann, wenn das Blog gerade nicht in Reichweite ist – stolpere ich über ein Wort, dass ich sonst völlig selbstverständlich (und auch ein bisschen achtlos) benutze, schaue es mir genauer an, und denke: Ein derart treffendes, originelles, liebevolles und selbst Fremdsprachigen intuitiv verständliches Wort kann es wirklich nur im Schweizerdeutschen geben. Natürlich fällt mir ausgerechnet jetzt (wo das Blog in Reichweite wäre) kein Beispiel ein, das meine These zweifelsfrei belegen würde; aber ich werde die Beispiele zu gegebener Zeit nachliefern.

Ein deutscher Freund ist beispielsweise dem Charme des Wortes Rundumeli (das sich mit Scheibchen wirklich nur äusserst dürftig übersetzen lässt) restlos erlegen. Ist eine kurze Erheiterung angesagt, rufe ich: „Rundumeli!“ oder auch „Rundumeli?“ – und er schmeisst sich weg.

So wirklich treffend sind aber eher die Verben: aapfurre zum Beispiel. Oder umegarettle. Oder schibäbele. Oder chröse. Wobei ich mir die Übersetzungsversuche an dieser Stelle erspare, denn schliesslich vertrete ich ja die These, dass diese Wörter selbst Fremdsprachigen intuitiv verständlich sind.

Nicht überzeugt? Dann führe man sich doch wieder einmal das Totemügerli von Franz Hohler zu Gemüte. Da wird mit sehr stimmigen, aber grösstenteils frei erfundenen Wörtern es bärndütsches Gschichtli erzählt, das jeder (irgendwie) versteht. (Eine Transkription gibt es beispielweise hier oder hier). Und auch heute noch, rund 25 Jahre nach meiner ersten Franz-Hohler-Kassette, kann ich mich immer noch wegschmeissen, sobald ich das Wort gschanghangizigerlifisionööggelet höre. Oder gibt es eine schönere Beschreibung für das plötzliche Erlamen des Lebensmutes als die Wendung, dass einem ds Härzgätterli zum Hosegschingg uspföderlet?

De Föifer und ’s Weggli

Mittwoch, den 29. Dezember 2004

Obige Redewendung dürfte zwar nur von Menschen verstanden werden, die des Schweizerdeutschen mächtig sind – die ihr zugrundeliegende Einsicht dürfte jedoch international Gültigkeit haben: Man kann nicht alles auf einmal haben. Gerade wer in der Dienstleistungsbranche tätig ist, verspürt zunehmend den Druck der Kunden, immer schneller, immer besser und trotzdem immer billiger anzubieten. Dass dies nicht gut gehen kann, ist jedem Dienstleister klar – doch kaum ein Kunde will das einsehen.

Der Designer Ivan Raszl hat die ganze Problematik in einer Grafik sehr schön erfasst:

  

Holy Triangle

  

Was uns dieser „Holy Triangle“ sagen will, ist: Schnell und gut geht. Gut und billig geht. Billig und schnell geht. Aber alle drei zusammen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Oder wie er es selbst formuliert:

„Choose good and fast and I will postpone every other job, cancel my appointments an make up an excuse for my wife just to get your job done. But don’t expect me to do it for peanuts.

Choose good and cheap and I will do a great job for a discounted price, but be patient till I have a free moment from paying clients.

Choose fast and cheap and expect a shit job delivered on time and all I ask for is a free beer.“

(via Notizen aus der Provinz)

Die Krux mit der Wochennummer

Montag, den 27. Dezember 2004

Welcher Tag ist heute? Montag, der 27. Dezember 2004. Und in welcher Kalenderwoche (KW) befinden wir uns? Nachdem die letzte Woche die KW 52/2004 war, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder beginnt heute die KW 53/2004 oder die KW 1/2005. Beides kommt uns aber seltsam vor, denn eineseits haben wir gelernt, dass ein Jahr nur 52 Wochen hat, und andererseits widerspricht es jeder Logik, dass wir uns vor Silvester bereits in der ersten Woche des kommenen Jahres befinden sollen. Und dennoch: Eine der beiden obigen Möglichkeiten muss die richtige sein. Bloss welche?

Grundsätzlich kommen beide Varianten vor. Dieses Jahr haben wir allerdings den Fall einer 53. Kalenderwoche. Wie man dies im Detail berechnet, ist in verschiedenen Normen geregelt. Auf www.excelformeln.de ist dies sehr schön zusammengefasst:

„Die erste Woche des Jahres ist definiert als die Woche, in die mindestens 4 Tage fallen = DIN 1355. Entspricht der internationalen Norm ISO 8601 (1988); übernommen von der EU als EN 28601 (1992) und in Deutschland als DIN EN 28601 (1993) umgesetzt.“

Leider gilt dies nun aber nicht immer und nicht überall. Ein mir nicht namentlich bekannter Delphi-Programmierer hat sich die Mühe gemacht, die Problematik der Wochennummerierung knapp und übersichtlich zusammenzustellen.

Für eine vertieftes Verständnis der ganzen Problematik empfehlen sich folgende Links:

Google Scholar

Sonntag, den 26. Dezember 2004

Noch wird sie zwar als „beta“ qualifiziert, die Suchmaschine für wissenschaftliche Texte von Google. Doch Google Scholar scheint schon ziemlich potent zu sein, und sie könnte die Welt der wissenschaftlichen Fachpublikationen kräftig aufmischen.

Ein guter Artikel, der weniger auf die Features der Suchmaschine als auf den grösseren Zusammenhang eingeht, hat Deborah Asbrand in der Technology Review publiziert:

„Open Access, der offene Zugang zu Forschungsinformationen, wird inzwischen von immer mehr Gruppen im Bereich wissenschaftlicher Publikationen gefordert. Sie sehen Google Scholar als ersten wichtigen Schritt, dies zu erreichen.“

Etwas anders klingt es bei Danny Sullivan von Search Engine Watch: Google Scholar indiziert Artikel, deren Volltext meist nur für Abonnenten der jeweiligen Fachzeitschrift einsehbar sind. Hierfür ist Google auf die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Verlagen angewiesen. Die Verlage ihrerseits versprechen sich wohl von Google Scholar indirekt neue Abonnenten. Keine Konkurrenz also, sondern vielmehr eine Symbiose?

Bittersüss

Sonntag, den 26. Dezember 2004

„If the phone doesn’t ring it’s me.“

Jimmy Buffet

(via Weltwoche 52/2004)

Why open access?

Sonntag, den 26. Dezember 2004

Open Access: Should scientific articles be available online and free to the public?“ Diese Frage erörtert Amanda Schaffer in einem ausführlichen, gut recherchierten Artikel in Slate. Eines ihrer schlagendsten Argumente:

„It doesn’t make sense for journals to charge fees for access to primary research articles when that research is supported largely by public funding.“

Ein interessanter Link am Rande: Public Library of Science.

To think about [3]

Samstag, den 25. Dezember 2004

Balts Nill („Stiller Has“) im NZZ Folio 12/2004 auf die Frage, woran er glaube:

„Was den Menschen angeht, so glaube ich an das Individuum, nicht aber an den Individualismus. […]

Was die Musik angeht, so glaube ich an Töne, nicht aber an Noten. […]

Was die ewige Liebe angeht, so glaube ich an ihre fortdauernde Renovierbarkeit, nicht aber an ihre Konservierbarkeit.

Was die Religion angeht, so glaube ich an Erfahrung, nicht aber an Überzeugungen.

Was die Antworten auf die letzten Fragen angeht, so glaube ich an den Gedankenstrich, nicht aber an das Ausrufezeichen.“