Die Gedanken sind frei

20. Januar 2005 | Tim Springer

“Bewusst einseitig” nennt das Netbib Weblog meine Zusammenfassung der Datenschutzproblematik bei RFID-Tags. Damit kann ich leben – obwohl ich eher das Wort “kehrseitig” benutzt hätte: Schliesslich wollte ich statt der hinlänglich bekannten und offensichtlichen Vorteile der RFID-Tags deren versteckte und nicht ganz einfach zu verstehenden Nachteile beleuchten, mithin also die Kehrseite der Medaille zeigen.

Dafür bringt mich Netbib auf einen neuen Aspekt des Themas, den ich nicht unbebloggt lassen möchte: RFID-Tags in Bibliotheken. Es scheint so, dass ausgerechnet Bibliotheken eine Vorreiterrolle bei der Einführung dieser Technik spielen. Das ist verständlich, aber auch bedenklich:

Verständlich deshalb, weil Ausleihe und Rückgabe wesentlich effizienter abgewickelt werden können, wenn die Bücher per Funk identifizierbar sind – bis hin zu Selbstbedienungssystemen. Auch die jährliche Inventarisation oder das Wiederfinden verstellter Bücher wird deutlich vereinfacht. In Zeiten knapper werdender Budgets machen derartige Massnahmen ökonomisch absolut Sinn, weil dank RFID-Tags viel Handarbeit entfällt und zugleich ein zuverlässiger Diebstahlschutz implementiert werden kann.

Bedenklich deshalb, weil ausgerechnet die Bibliotheken als Hort der Meinungsbildung, -äusserung und -freiheit einer Tendenz Vorschub leisten, welche die genau diese Meinungsfreiheit empfindlich einschränken könnte. Bisher wusste nur der Bibliothekar, was ich lese – in Zukunft könnten das auch ganz andere Personen oder Organisationen in Erfahrung bringen. Und da muss ich sagen: Es geht niemanden was an, was ich gerade lese – sei es so harmlos wie ein Johannes Mario Simmel oder so verdächtig wie “Das Kommunistische Manifest”. Wenn das Lektürengeheimnis nicht mehr gewährleistet ist, weil ein RFID-Leser auch durch Taschen und Kleider sieht, dann ist noch weit mehr verloren als wenn jemand in Erfahrung bringen kann, dass ich gerade Bio-Zwetschgen-Joghurt eingekauft habe. Und irgendwann – um hier gleich noch einen gedanklichen Rückwärtssalto anzuschliessen – wird es dann auch keine Bibliotheken mehr brauchen, weil nämlich die wenigen Bücher, die man noch bedenkenlos mit sich herumtragen kann, derart sterbenslangweilig sind, dass man sich auch diese nicht mehr ausleiht.

Als bekennender Bibliotheken-Fetischist bin ich aber durchaus bereit, mich von Konzepten überzeugen zu lassen, wie man die Buchausleihe effizienter gestalten kann, ohne deswegen das Lektürengeheimnis preiszugeben.

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